Sinn und Unsinn der Darmstädter Nordostumgehung

von Stephan Kaczmarek

Ziel der Stadt Darmstadt ist es, den PKW- und LKW-Verkehr, der aus östlicher Richtung über die B26 in die westlichen Gewerbegebiete und zum Autobahnanschluss fließt, umzuleiten und zu kanalisieren. Dazu soll eine neue Straße nördlich des Stadtkerns “um die Innenstadt herum” geleitet werden. Die Nordostumgehung erscheint den verantwortlichen Planern und Politikern als die “große” Lösung, um die Innenstadt zu entlasten und gleichzeitig die Gewerbegebiete im Westen an die östliche Stadteinfahrt anzuschließen.

Vordergründig gesehen ist es weitsichtig, dass die erarbeitete Verkehrslösung die wichtigsten Nahbeziehungen in der Stadt berücksichtigt. Durch die vorgesehene Eintunnelung der geplanten Straße sollen die Rosenhöhe, das Komponistenviertel und der Bürgerpark weiterhin gut von der Innenstadt aus erreichbar sein; in vielen anderen Städten wird für eine solche Tunnellösung vergebens gekämpft. Auch ist laut Verkehrsprognose davon auszugehen, dass der nördliche Stadtring (Rhönring und Spessartring) gegenüber der heutigen Situation vom Verkehr entlastet wird. Hier liegt die vermeintliche Stärke der geplanten Nordostumgehung.

Dabei muss man sich allerdings fragen, was bisher unternommen wurde, um den Verkehr aus östlicher Richtung zu reduzieren. Die Antwort lautet: Nichts, im Gegenteil. Die betreffenden Bundesstraßen B26 und B45 werden zügig ausgebaut, um noch mehr Verkehr auf die östliche Stadteinfahrt zu generieren. Dabei stellen die Bundesstraßen eine hervorragende Alternative zu den Autobahnen A3 und A5 über das Frankfurter Kreuz dar. Einzig die Belastung durch Feinstaub konnte die Stadt (zwangsweise) dazu bewegen, den LKW-Durchgangsverkehr durch die Innenstadt zu reglementieren. Die Erfolge dieser Maßnahme sind durchaus spürbar, wenn auch die Kontrolle ihrer Einhaltung große Lücken aufweist. 

Das Hauptproblem liegt tatsächlich im hohen LKW-Anteil am Fahrzeugaufkommen. LKW verursachen eine weit höhere Belastung der Straße als PKW, sowohl in der Kapazität als auch bei der Lärmbelastung. Es handelt sich dabei hauptsächlich nicht um Handwerker aus dem Odenwald, die sich im Baumarkt mit Material versorgen, sondern vielmehr um Lieferanten, die von der A3 aus Richtung Würzburg kommend die B26 als Umfahrung des Frankfurter Kreuzes nutzen. Die Stadt Darmstadt hat im Jahr 2006 die Fahrtziele dieser Fahrzeuge erhoben; im Ergebnis spielt die Innenstadt nur eine untergeordnete Rolle, das heißt, die wichtigsten Fahrtziele wären auch über die Autobahnen A3 und A5 erreichbar gewesen.

Die Stadt Darmstadt baut sich also eine neue Autobahn quer durch die Stadt und zieht damit Verkehr an, den sie eigentlich gar nicht haben möchte. Es darf nicht sein, dass die B26 als “Ersatzautobahn” weiter etabliert wird und sämtlichen Verkehr zwischen Hanau /Aschaffenburg und der Anschlussstelle Darmstadt aufnimmt. Die neue überregionale Verkehrsbeziehung über die Nordostumgehung wäre ein “Fass ohne Boden” und würde so viel Verkehr auf sich ziehen, wie ihre Kapazität eben zulässt. Der Bebauungsplan der Stadt Darmstadt geht von über 15.000 Fahrzeugen pro Tag aus, welche zusätzlich über die B26 in die Stadt einfahren. Dies entspricht dem zusätzlichen Verkehrsaufkommen einer mittelgroßen Stadt. Es ist also kein Wunder, dass den Verkehrsuntersuchungen zufolge der eigentliche Stadtkern durch die Nordostumgehung kaum entlastet wird; dafür werden die Bürger an den oberirdisch geführten Streckenteilen der Nordostumgehung extremer Lärmbelastung ausgesetzt. Auch dürfte damit dem Ziel, die hohe Feinstaubbelastung Darmstadts zu verringern, nicht gedient sein.

Aus städtebaulicher Sicht ist zu sagen, dass die Nordostumgehung ihren Namen nicht verdient hat. Darmstadt lebt von seinen Vierteln und Parks; eine Autobahn, die zwischen Mathildenhöhe und Rosenhöhe verläuft, trifft unbestreitbar eine Lebensader der Stadt. Überhaupt ist das Argument der Stadtverordneten, es handle sich um eine “Innenstadtumgehung”, als vorgestrig zu entlarven; Darmstadts Stadtstruktur greift weit in ihre Viertel hinein, und das macht den Charme der Stadt aus.

Die Nordostumgehung hätte demnach eine Schneise quer durch die innere Stadtstruktur (nennen wir es Innenstadt!) zur Folge. Es handelt sich dabei nicht nur um einen von Bäumen befreiten Bereich, sondern um eine Narbe, deren Verwachsen viel Zeit in Anspruch nimmt. Es ist mehr als fraglich, ob die innerstädtischen Bezüge in der heutigen Qualität wiederhergestellt werden können, da dies der Stadt erhebliche Folgekosten bereiten wird. In Aschaffenburg lassen sich die Auswirkungen einer “Innenstadtumgehung” übrigens hervorragend studieren; hier ist es gelungen, den gesamten südlichen Stadtbereich vom Stadtkern abzutrennen.

Ein erstaunlicher Widerspruch ist es auch, dass einerseits der Einzelhandel in der Darmstädter City gefördert werden soll, andererseits aber faktisch eine Direktverbindung zwischen dem östlichen Umland und dem riesigen Weiterstädter Einkaufszentrum geplant wird. Hier schneidet sich die Stadt Darmstadt mit der geplanten Umgehung ins eigene Fleisch, und es ist eigentlich verwunderlich, dass der Darmstädter Einzelhandel nicht längst Alarm schlägt.

In vielen Punkten wird deutlich, dass es sich bei der Nordostumgehung um ein Prestigeprojekt mit langjähriger Planungsgeschichte handelt, das wieder und wieder auf die Tagesordnung gerufen wurde. Nach Abwägung der vorgebrachten Argumente kann man feststellen, dass die Nordostumgehung nach wie vor keine stadtverträgliche Lösung darstellt. Es werden weder die Verkehrsprobleme Darmstadts nachhaltig gelöst, noch profitieren die Bürger angemessen von der beabsichtigten Entlastung. In vielen Bereichen der Stadt werden vielmehr neue Probleme geschaffen, welche die Lebensqualität für die Bürger einschränken werden und deren notdürftige Lösung weitere Millionen verschlingen wird. Es sieht so aus, als sollten auf dem Rücken der Stadt und ihrer Bürger Probleme ausgetragen werden, die eigentlich von den Straßenbehörden des Landes und des Bundes gelöst werden müssten.

Am 30.09.2008 hat eine knappe Mehrheit des Stadtparlaments dem Bebauungsplan N59 für die Nordostumgehung zugestimmt und damit Baurecht geschaffen. Die Planung kann daher nur noch auf dem Weg eines Bürgerbegehrens mit nachfolgendem Bürgerentscheid gekippt werden. Im Zuge des Bürgerbegehrens müssen im ersten Schritt bis zum 10. November gut 10.000 Unterschriften gesammelt werden; die Listen der Bürgerinitiative ONO liegen in vielen Geschäften aus und sind auch im Internet herunterzuladen (www.nordostumgehung.de/buergerbegehren.html).

Die bekannte Alternative zur Nordostumgehung besteht übrigens darin, den LKW-Verkehr aus östlicher Richtung konsequent zu reduzieren. Die vielen (nicht umgesetzten)Vorschläge beinhalten u.a. LKW-Maut, Plaketten, Pförtnerampeln und Geschwindigkeitsreduzierungen. Diese “einfachen” Maßnahmen sind nicht nur stadtverträglicher als eine autobahnähnliche Bundesstraße, sie lassen der Stadt auch viel finanziellen Spielraum für sinnvollere Projekte.

Stephan Kaczmarek ist Städtebauarchitekt

 

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