Denkpause und Moratorium

11.06.2009

Der Bürgerentscheid zur Nordostumgehung war ein großer Erfolg, auch wenn das „Quorum" von 25% aller Stimmberechtigten nur knapp verfehlt wurde. Eine Regelung übrigens, welche weder die Schweiz als Europas älteste Demokratie für ihre zahlreichen direkten Volksabstimmungen kennt noch unsere Hessische Landesverfassung. Von den abgegebenen Stimmen war es freilich eine satte Mehrheit von fast 55%, die FDP brachte es bei der gleichzeitigen EU-Wahl gerade mal auf knapp 11%.

Unsere Bürgerinitiative sieht ihre Aufgabe mit dem Bürgerentscheid nicht beendet, sondern nimmt die fast 26 000 Stimmen als Auftrag. Diese Anzahl haben die Oberbürgermeister Peter Benz und Walter Hoffmann bei ihren Wahlen in allen Wahlgängen nicht erzielt, bei den letzten Landtagswahlen auch keine Partei.

Es gibt keine Veranlassung zur Wählerschelte, eher zur Nichtwählerschelte. Der Bürgerentscheid hat immerhin die Wahlbeteiligung spürbar erhöht.

Die Ablehnung der Nordostumgehung ist gerade dort am stärksten, wo die angeblich größte Verkehrsentlastung versprochen wird. Das „Nein" beim Bürgerentscheid scheint eher mit der Entfernung zur geplanten Trasse zuzunehmen.

Gerade in diesen Tagen werden viele neue Fragen an Städte und Gemeinden gestellt. Auch unsere Stadt ist mit einer halben Milliarde Euro alarmierend überschuldet und wird immer mehr zum Lückenbüßer des Sozialstaats. Fast alle öffentlichen Einrichtungen weisen enormen Sanierungsbedarf auf. Angesichts dieser Verpflichtungen ist jede größere Maßnahme auf den Prüfstand zu stellen. Auch die Tatsache, dass der Autoverkehr von und nach Darmstadt seit 15 Jahren stagniert, zum Teil sogar abgenommen hat, gibt Anlass zu einer Wende in der Verkehrspolitik. Fahrgastzuwächse von über 3% bei der DADINA im Jahr 2008 bestätigen diese Einschätzung.

Daher hat die Versammlung der Bürgerinitiative am 9. 6. in der „Osttangente" beschlossen:

  1. Wir führen unsere Kampagne fort unter dem Motto „Hallo Ihr da oben: Bürgerwillen achten".
  2. Wir begrüßen die angekündigte Gesprächsbereitschaft und Denkpause des Oberbürgermeisters und anderer Mandatsträger und sind bereit, über Alternativen der Darmstädter Verkehrspolitik zu sprechen.
  3. Wir fordern ein Moratorium als Bedingung für Gespräche.
  4. Wir erwarten die Möglichkeit zu schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen in den parlamentarischen Gremien.
  5. Wir beanspruchen einen Sitz im gerade erneut zusammentreffenden Forum zur Verkehrsentwicklung, das bereits bei seiner Neukonstituierung ausführlich dargelegt hat, dass die seitherigen Konzepte dringend zu überprüfen sind.

Als Beleg für ein neues Denken ein Papier der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahre 2001:

1. Auto, Umwelt und Verkehr im Konflikt

(…)

Die Umsetzung einer umwelt- und sozialverträglichen Stadtverkehrspolitik gehört zu den zentralen Problemen, die in den nächsten zehn bis 20 Jahren in den neuen Bundesländern gelöst werden müssen. "Freie Fahrt für freie Bürger" ist heutzutage mehr oder weniger ein provozierender Spruch, denn eine "Freie Fahrt für freie Bürger" würde heute unweigerlich zu einer blockierten Fahrt führen. Stau in der Stadt und Verkehrsinfarkt sind keine Apokalypse, sondern eine realistische Prognose, wenn die Bundesbürger nicht ihr Verhältnis zum Auto verändern. Die Deutschen fahren heute pro Jahr eine 10 mal längere Strecke als 1953, obwohl die Straßenkapazitäten sich nur um 50 % verändert haben – und das ist ein Durchschnittswert. Es gibt durchaus Städte und Regionen, in denen 20mal mehr gefahren wird und sich der Verkehrsraum nur um ein Viertel erweitert hat. Hier ist die Stausituation vorprogrammiert.

In Zukunft wird die Schere zwischen vorhandenen Autos und verfügbaren Straßenflächen weiter auseinander klaffen. Daher ist abseits aller ideologischen Positionen bei Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen klar: Benötigt wird ein neues Verkehrskonzept, ein Verkehrskonsens darüber, wie die Verkehrsträger – die eigenen Füße, die Fahrräder, der ÖPNV und die Autos – neu geordnet und eingesetzt werden. Dabei sind die Einstellungen noch kontrovers: 80 % der Bürger in den Städten sind zwar der Meinung, es muß sich etwas tun und die Städte müssen verkehrsberuhigt bzw. verkehrsentleert werden. Aber gleichzeitig sind die Bürger nicht bereit, auf ihr Auto zu verzichten. Hier ist noch eine ganze Menge an Aufklärungsarbeit zu leisten.

Quelle:

Freie Fahrt für freie Bürger? : Elemente einer rationalen Autonutzung in den neuen Bundesländern ; eine Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 14. Oktober 1993 in Dresden / [Ausarbeitung von Jürgen Burmeister] – [Electronic ed.] – Bonn, 1993 – 51 S. = 160 Kb, Text . – (Reihe "Wirtschaftspolitische Diskurse" ; 58) – ISBN 3-86077-267-8 Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001